Die Aktuelle Kamera. Themen�bersicht. Politb�ro-Prozess.


Erstellt 15.01.2000. Aktualisiert 28.07.01.


Pressemeldung vom 26.08.97:

Gericht sieht Verantwortung von Krenz, Schabowski und Kleiber f�r Maueropfer als erwiesen an

"Ohne Beschl�sse des Politb�ros h�tte es die Toten nicht gegeben"

Der gro�e Knall kam erst zum Schlu�. "Herr Krenz, Sie sind hiermit verhaftet", entschied Richter Josef Hoch, nachdem er mehr als zwei Stunden lang in aller Ruhe das Urteil der 27.Gro�en Strafkammer des Berliner Landgerichts gegen drei fr�here Mitglieder des SED-Politb�ros erl�utert hatte. Der Vorsitzende hatte seinen Satz kaum beendet, da machte sich im Zuschauerraum auch schon lautstarke Emp�rung breit. "Pfui" zischte eine Frau. "Das ist ja unerh�rt." Ein �lterer Mann hob seine rechte Faust zum Rot-Front-Gru� und schrie quer durch den Saal: "Egon, beuge Dich nicht. Egon, ich bin mit Dir solidarisch."

Der ehemalige SED-Generalsekret�r Egon Krenz, der sich gern als den "letzten Kapit�n der DDR" bezeichnet, reagierte auf die Sympathiekundgebungen seiner Fans allerdings nur mit einer verlegenen Handbewegung. Er stand kurz auf, setzte sich jedoch gleich wieder auf seinen Platz und lie� sich von seinen Anw�lten sowie von seinem im Gerichtssaal anwesenden Sohn tr�sten. Die Entscheidung der Kammer hatte den 60j�hrigen offenbar tief getroffen. Krenz, der gestern wegen seiner Mitverantwortung f�r das Grenzregime der DDR sowie f�r die Toten an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt worden war, hatte offenbar nicht mit einer sofortigen Verhaftung "wegen Fluchtgefahr" gerechnet.

Noch am Morgen vor der Urteilsverk�ndung war Egon Krenz in der Rolle der verfolgten Unschuld aufgetreten. "Ich gehe erhobenen Hauptes", betonte er, als er an nahezu einhundert Journalisten und Dutzenden von Fernsehkameras vorbei den Saal 500 des Berliner Landgerichts betrat. "Ich bin kein Totschl�ger", f�gte er hinzu. Und er wiederholte seine �berzeugung: "Ich werde stellvertretend verurteilt, damit die DDR im Nachhinein kriminalisiert werden kann."

Im Saal selbst herrschte gespannte Stimmung, als Richter Hoch nach 115 Verhandlungstagen und der Vernehmung zahlreicher Zeugen sowie dem Verlesen von Tausenden Protokollseiten den Schuldspruch verk�ndete: Neben Krenz wurden auch die beiden mitangeklagten Politb�romitglieder G�nter Schabowski und G�nther Kleiber verurteilt - beide allerdings nur zu jeweils drei Jahren Haft. Alle drei Angeklagten wurden f�r schuldig befunden, durch ihre Mitwirkung an Beschl�ssen des Politb�ros, des h�chsten Machtorgans im zweiten deutschen Staat, bewu�t den Tod von Fl�chtlingen in Kauf genommen zu haben. Das Politb�ro habe so etwas wie einen "ideologischen Schie�befehl" formuliert, der allein an der Berliner Mauer 265 Todesopfer sowie viele hundert Verletzte zur Folge hatte. "Dabei handelte es sich vor allem um Menschen, die nichts anderes wollten, als ihr Land zu verlassen", sagte der Vorsitzende.

Urspr�nglich hatte das Verfahren Anfang 1995 mit sieben angeklagten Politb�romitgliedern begonnen. Einer der Beschuldigten starb noch vor der Er�ffnung der Hauptverhandlung, drei weitere schieden nach und nach aus Gesundheitsgr�nden aus dem Verfahren aus. Zum Schlu� blieben nur noch Krenz, Schabowski und Kleiber �brig. Mit Einverst�ndnis der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten wurde der Proze�, in dem es zun�chst um 66 Maueropfer gegangen war, auf nur noch vier F�lle konzentriert. In diesen F�llen hatten die Angeklagten in Sitzungen des SED-Politb�ros an Beschl�ssen zur Grenzsicherung teilgenommen und dort durch Formulierungen wie "Grenzverletzer sind zu stellen oder zu vernichten" oder "Aggressoren sind zu vernichten" den Grenztruppen praktisch einen Schie�befehl erteilt.

"Den Angeklagten war bewu�t", sagte Richter Hoch, "da� die Beschl�sse des Politb�ros bindenden Charakter hatten." Aus den Entscheidungen dieses obersten Gremiums der DDR wurden Gesetze und Anweisungen, die nach Ansicht der Kammer in "einer Befehlskette von oben nach unten" schlie�lich bei jenen jungen Grenzsoldaten landeten, die auf fl�chtende Landsleute schossen. "Ohne die zentralen Beschl�sse des Politb�ros", sagte Richter Hoch, "h�tte es die Toten an der Grenze nicht gegeben." Die Staatsanwaltschaft hatte �brigens Haftstrafen zwischen siebeneinhalb und elf Jahren beantragt.

Zum Gl�ck f�r die drei Angeklagten wurden sie gestern nicht nach den strikten Normen des DDR-Rechts verurteilt: Nach den Gesetzen des zweiten deutschen Staates w�re ihre Tat als Anstiftung zum Mord mit mindestens zehn Jahren Haft geahndet worden - ein Strafnachla� war nicht vorgesehen. Im Einigungsvertrag hatten sich das Bonner Kabinett und die DDR-Regierung jedoch entschlossen, bei Strafverfahren vor gesamtdeutschen Gerichten das jeweils mildere Recht anzuwenden. Und das war im Fall Krenz und Co. das bundesdeutsche Strafgesetzbuch, das bei bedingtem Totschlag einen Strafrahmen von sechs Monaten bis zu f�nf Jahren vorsieht.

Au�erdem erlaubte es der Kammer, jede Menge Milderungsgr�nde zu finden: So lobte das Gericht das "offene und ehrliche Auftreten" des Angeklagten Kleiber, der dem Gericht die Arbeit erheblich erleichtert habe, sowie die "aufrichtige und selbstkritische Haltung" des Angeklagten Schabowski, der durch seine Interviews und B�cher einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit geleistet habe. Selbst Egon Krenz erhielt eine Streicheleinheit: Der Mann habe sich zum Ende der DDR "ernsthaft bem�ht", den Schu�waffengebrauch an der Grenze zu reduzieren und die Wende gewaltlos �ber die B�hne gehen zu lassen. "Dieses Verhalten", lobte Richter Hoch, "hat sich jedenfalls ganz erheblich strafmildernd ausgewirkt."


Eine steile Karriere

Schon mit 47 Jahren Honeckers Stellvertreter

Die politische Entwicklung des 1937 im pommerschen Kolberg geborenen Schneidersohnes Egon Krenz verlief so, wie man sich gemeinhin eine steile Karriere vorstellt.

Schon in ganz jungen Jahren hatte sich Krenz den sozialistischen Massenorganisationen verschrieben: Nach 1945 war er Mitglied der Pionierorganisation "Ernst Th�lmann", 1953 trat er in die "Freie Deutsche Jugend" (FDJ) ein. Dort brachte er es bis zum Ersten Sekret�r des FDJ-Zentralrates. Seit 1955 war er Mitglied der SED und des Gewerkschaftsbundes FDGB.

Mit 16 Jahren schon besuchte Krenz das Institut f�r Lehrerbildung in Putbus und legte als 20j�hriger sein Lehrerexamen ab. Anschlie�end diente er bis 1959 freiwillig bei der Nationalen Volksarmee. In den 60er Jahren war Egon Krenz auf der Parteihochschule der KPdSU in Moskau und erwarb hier den Grad eines Diplom-Gesellschaftswissenschaftlers. Seit 1971 geh�rte Krenz der Volkskammer an.

Nach kontinuierlicher Karriere innerhalb von FDJ und SED r�ckte Krenz schlie�lich im November 1983 in die Position eines ZK-Sekret�rs und zum Vollmitglied des SED-Politb�ros auf. Bereits im Alter von 47 Jahren brachte es Krenz zum Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden Erich Honeckers. Lange wurde er als m�glicher Nachfolger gehandelt.

Als Krenz in den Wirren des Wendeherbstes 1989 Honecker schlie�lich beerbte, konnte er sich aber nur kurz an der Staats- und Parteispitze behaupten. Bereits Anfang Dezember mu�te er alle Partei- und Staats�mter niederlegen. Im Januar folgte der Ausschlu� aus der SED-Nachfolgeorganisation PDS.

Egon Krenz ist mit einer fr�heren Lehrerin verheiratet und hat mit seiner Frau Erika zwei S�hne. Noch 1989 verlie� die Familie das SED-Funktion�rs-"Ghetto" in Wandlitz und bezog eine neue Wohnung.

Das �ffentliche Interesse an Krenz konzentrierte sich fortan vor allem auf seine Rolle als prominenter Zeuge, der ab 1991 in diversen Prozessen gegen f�hrende Repr�sentanten des SED-Staates geh�rt wurde.


Chronologie - Nach �ber zwei Jahren:

Von sieben Angeklagten drei verurteilt

Das Strafverfahren gegen die fr�heren Mitglieder des m�chtigsten DDR-Gremiums begann vor rund zweieinhalb Jahren mit der Anklageerhebung. Wir dokumentieren die wichtigsten Stationen des Politb�ro-Prozesses. W�hrend des Verfahrens reduzierte sich die Zahl der Angeklagten von sieben auf jetzt drei.

9. Januar 1995: Nach rund dreij�hrigen Ermittlungen gibt die Berliner Justiz die Anklageerhebung gegen sieben einstige Mitglieder des SED-Politb�ros bekannt. Dies sind neben den jetzt verurteilten Egon Krenz, G�nter Schabowski und G�nther Kleiber auch Harry Tisch, Kurt Hager, Erich M�ckenberger und Horst Dohlus.

13. November 1995: Der Politb�ro-Proze� beginnt im ersten Anlauf vor der 27. Gro�en Strafkammer des Berliner Landgerichts. Der Gewerkschaftsvorsitzende Harry Tisch stirbt im Sommer 1995. Den jetzt sechs Angeklagten wird bis zu 49facher Totschlag zur Last gelegt.

17. November 1995: Eine andere Kammer des Landgerichts schlie�t den Vorsitzenden Richter Hansgeorg Br�utigam wegen Befangenheit aus, da er einen Aufsatz �ber die juristische Verfolgung hochrangiger DDR-Funktion�re geschrieben hatte. Der Proze� wird unter dem Vorsitz des bisherigen Beisitzenden Richters Josef Hoch fortgesetzt.

30. November 1995: Der Proze� platzt. Wegen einer anstehenden Operation des SED-Wirtschaftsfachmanns G�nther Kleiber wird die Hauptverhandlung nach nur vier Verhandlungstagen bereits abgebrochen.

15. Januar 1996: Der Politb�ro-Proze� beginnt im zweiten Anlauf.

9. Mai 1996: Der SED-Chefideologe Kurt Hager scheidet im Alter von 83 Jahren aus Gesundheitsgr�nden aus dem Verfahren aus.

26. August 1996: Der angeklagte fr�here Chef der Parteikontrollkommission, Erich M�ckenberger, scheidet aus dem Verfahren aus. Zuvor konnte bereits wegen seines Gesundheitszustandes jeweils nur zwei Stunden pro Proze�tag verhandelt werden.

9. September 1996: Der fr�here Vize-Verteidigungsminister Fritz Streletz beteuert als Zeuge, es habe keinen Schie�befehl an der Grenze gegeben. Auch Verteidigungsminister Heinz Ke�ler bestreitet wenig sp�ter die Existenz eines Schie�befehls.

1. Dezember 1996: Der letzte DDR-Staats- und Parteichef Krenz verlangt die Ladung von Helmut Kohl als Zeugen; das Gericht lehnt dies ab - ebenso wie die Ladung von Michail Gorbatschow.

17. April 1997: Der Anklagevorwurf wird reduziert: Krenz mu� sich nunmehr nur noch wegen vier F�llen, die �brigen Angeklagten wegen drei F�llen von Totschlag an Fl�chtlingen verantworten.

5. Juni 1997: Der fr�here SED-Kaderchef Horst Dohlus scheidet am 100. Proze�tag aus gesundheitlichen Gr�nden aus.

31. Juli 1997: Die Staatsanwaltschaft fordert f�r Krenz elf Jahre Haft. F�r den Ost-Berliner SED-Bezirkschef Schabowski verlangt sie neun, f�r den SED-Wirtschaftsfachmann Kleiber siebeneinhalb Jahre. Im folgenden beantragen die Verteidiger s�mtlicher Angeklagten Freispr�che.

18. August 1997: In seinem Schlu�wort bekr�ftigt Krenz den Vorwurf der Siegerjustiz. Schabowski r�umt dagegen Fehler ein und distanziert sich von der DDR. Kleiber erkl�rt lediglich, er habe die Toten an der Grenze nicht verursacht und f�hle sich unschuldig.


Die Opfer - An der Mauer:

Mindestens 916 Menschen wurden get�tet

Durch das Grenzregime der DDR sind nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft 13. August (Tag des Mauerbaus) mindestens 916 Menschen get�tet worden. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat in 253 F�llen ermittelt, in denen zwischen 1961 und 1989 Fl�chtlinge an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze get�tet wurden. Im Politb�ro-Proze� ging es nach Reduzierung der Vorw�rfe zur Verfahrensbeschleunigung zuletzt noch um vier F�lle.

Der 20j�hrige Michael-Horst Schmidt wurde in der Nacht zum 1. Dezember 1984 erschossen. Er war mit einer Leiter in das Grenzgebiet im Berliner Stadtteil Pankow gegangen, wo er einen Alarmzaun ausl�ste. Unter Beschu� genommen, fiel er von seiner Leiter ins Grenzgebiet zur�ck. Erst Stunden sp�ter wurde er in ein Krankenhaus gebracht, wo er dann starb. Der 25j�hrige Michael Bittner wollte im Bereich Glienicke nach West-Berlin fl�chten. Im Grenzgebiet gaben am 24. November 1986 zwei Grenzer Dauerfeuer aus etwa 160 bis 180 Metern Entfernung. An der Mauerkrone wurde er von drei Sch�ssen in den R�cken getroffen. Der 24j�hrige Lutz Schmidt wurde am 12. Februar 1987 an der Grenze zum Bezirk Treptow erschossen. Er wollte mit einem Freund �ber die Mauer klettern. Der 20j�hrige Chris Gueffroy wurde am 5. Februar 1989 erschossen und gilt als der letzte Mauertote. Mit einem Freund versuchte er, die Sperranlagen in Berlin-Treptow zu �berwinden. Obwohl sie unter Dauerfeuer kamen, konnten sie den Grenzzaun noch erreichen. Gueffroy wurde dort aber in die Brust geschossen.


Zu einem Artikel �ber das endg�ltige Urteil im Vorfeld der BGH-Entscheidung im Politb�ro-Prozess (Oktober 1999) gelangen Sie hier.